Fr, 17:30
Literatur
+++Abgesagt+++Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945: 77. Grundbuch *ohne Live-Stream*
Diese Veranstaltung musste abgesagt werden.
Franz Rieger: Schattenschweigen oder Hartheim (Roman, St.-Benno-Verlag 1983; Bibliothek der Provinz 2002)
Lesung und Kommentar: Reinhard Kaiser-Mühlecker
Referat: Ulrike Tanzer
Redaktion und Moderation: Klaus Kastberger, Kurt Neumann
Der einzelgängerische Schriftsteller Franz Rieger hat in seinem Romanwerk mehrfach das Thema der Beseitigung kranker und geschwächter Menschen in der oberösterreichischen Euthanasieanstalt Hartheim zur Zeit des Nationalsozialismus thematisiert. In Schattenschweigen oder Hartheim beschreibt er mit beharrlicher Akribie, wie familiäre Wortlosigkeit rasch zu Hartherzigkeit und Gewaltbereitschaft führt, eine junge Frau zur Verrückten gemacht wird und in die Fänge einer zu Mord und Vernichtung aufgehetzten Gesellschaft gerät. Auch der Beobachter und Chronist dieses Geschehens, der Ortspfarrer, berichtet nur mehr für sich selbst, unterwirft sich voll Skrupel dem gesellschaftlichen Schweigen, versucht unter größter Vorsicht seine Not dem Bischof zu erklären und wird schließlich versetzt.
Charakteristisch für Rieger ist sein gewissenhafter, ja minutiöser Erzählstil, der den Personen, von denen er erzählt, gerecht werden möchte und zugleich eine Art Interpretation des Geschehenen anbietet. Daraus resultieren stellenweise geradezu halsbrecherische Schachtelsätze, die Rieger als eigenwilligen Grenzgänger zwischen konservativer Erzählhaltung und modernen Schreibtechniken ausweisen.
Alois Brandstetter erklärte 1995: Ich halte Franz Rieger für den bedeutendsten lebenden oberösterreichischen Schriftsteller. In seinen Büchern sind Land und Landsleute am tiefsten, am ernstesten, am gerechtesten, am echtesten und am schönsten beschrieben.
Ulrike Tanzer schreibt zu dem Buch: Mit dem Namen Hartheim verbindet sich einer der zentralen Holocaust-Erinnerungsorte in Österreich. Das Renaissanceschloss aus dem 16. Jahrhundert in der Nähe von Alkoven in Oberösterreich wurde während der NS-Zeit als Euthanasieanstalt geführt. Zwischen 1940 und 1944 wurden rund 30.000 Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung sowie psychisch kranke Menschen ermordet: PatientInnen aus psychiatrischen Anstalten, BewohnerInnen von Behinderteneinrichtungen und Heimen, Häftlinge aus den KZ Mauthausen, Gusen und Dachau, ZwangsarbeiterInnen. 1997 wurde auf Initiative eines Vereins der Beschluss der oberösterreichischen Landesregierung gefasst, aus Hartheim einen Gedenk- und Lernort zu gestalten. Seit 2003 befindet sich im Schloss eine von Bund und Land finanzierte Gedenkstätte.
Die literarische Auseinandersetzung mit Hartheim beginnt allerdings wesentlich früher: Bereits 1985 legte der oberösterreichische Schriftsteller Franz Rieger einen Roman über die in Hartheim verübten Verbrechen vor. Grundlage für den Text sind Aufzeichnungen eines Pfarrers und dessen Gewissenskonflikte angesichts der Gräueltaten. Rieger, geboren 1923, wurde 1941 in die deutsche Wehrmacht eingezogen. 1946 kehrte er aus der Gefangenschaft zurück, arbeitete zunächst in der Finanzverwaltung und ab 1955 als Bibliothekar. Mit dem Roman »Schattenschweigen oder Hartheim« erlangte Franz Rieger zwar überregionale Bedeutung und Anerkennung. Eine Wiederentdeckung ist dennoch hoch an der Zeit!
Franz Rieger, *1923 in Riedau/OÖ, Besuch des Gymnasiums Petrinum in Linz (1935–38), Gymnasium in Passau (1938–1939); ab 1941 Arbeits- und Kriegsdienst, 1944–1946 Kriegsgefangenschaft in den USA und England; nach der Heimkehr 1946 Finanzangestellter, ab 1955 Bibliothekar bei den Büchereien der Stadt Linz, 1983 Ruhestand; †2005 in Oftering/OÖ. Er schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte und Hörspiele: Paß. Roman (1973); Die Landauer. Roman (1974); Feldwege. Roman (1976); Der Kalfakter. Roman (1978); Zwischenzeit Karman. Roman (1979); Vierfrauenhaus. Roman (1981); Schattenschweigen oder Hartheim. Roman (1983); Internat in L. Roman (1986); Das Faktotum und die Lady. Roman (1988); Unmögliche Annäherung. Erzählungen (1990); Querland. Sieben Darlegungen eines Falles in Landschaft. Erzählung (1990); Der Orkan. Roman (1993); Der Patriarch und ich. Roman (1995); Um ihn herum. Erzählungen (1995); Die unverzichtbare Ohnmacht. Roman (1999); Verschwinden, im Dunkeln. Lesebuch 1963–2002. Prosa und Lyrik (Hg. von Alfred Pittertschatscher, 2003); Strohpferde. Roman (Hg. Richard Pils, 2003).
Reinhard Kaiser-Mühlecker, *1982 in Kirchdorf an der Krems, aufgewachsen in Eberstalzell/OÖ; Studium der Landwirtschaft, Geschichte und Internationalen Entwicklung in Wien. Romane: Der lange Gang über die Stationen (2008); Magdalenaberg (2009); Wiedersehen in Fiumicino (2011); Roter Flieder (2012); Schwarzer Flieder (2014); Zeichnungen. Drei Erzählungen (2015); Fremde Seele, dunkler Wald. Roman (2016); Enteignung. Roman (2019).
Ulrike Tanzer, *1967 in Steyr, Studium der Deutschen Philologie und Anglistik/Amerikanistik in Wien und Salzburg; Gymnasialprofessorin, Universitätsassistentin in Salzburg; 2008 Habilitation, seit 2014 Professorin der Universität Innsbruck und Leiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Glückskonzepte in der Literatur, Editionstechnik und Leseforschung; außerdem ist sie Koordinatorin des Forschungszentrums Digital Humanities und stellvertretende Sprecherin des Doktoratskollegs Austrian Studies. Ulrike Tanzer ist Mitglied literarischer und wissenschaftlicher Vereinigungen, unter anderem der Internationalen Nestroy-Gesellschaft. Sie war außerdem Vorstandsmitglied der Forschungs- und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien.
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Alte Schmiede, Schönlaterngasse 9, 1010 Wien
Freier Eintritt bei allen Veranstaltungen in der Alten Schmiede
Hinweise für Personen mit eingeschränkter Mobilität:
Alle Veranstaltungsräume und Toiletten sind, teilweise über Treppenlift, mit dem Rollstuhl zugänglich.
Ein PKW-Stellplatz ist täglich von 18 bis 20 Uhr vor Schönlaterngasse 13 reserviert.