Mo, 19:00
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Lyrikfestival DICHTERLOH 2019 – »Ethnopoesie«/eine Art Werkportrait
JEROME ROTHENBERG (USA) zweisprachige Lesung aus Rituale & Events (hochroth, 2019), Khurbn (Wunderhorn, 2017), Polen/1931 (roughbooks, 2019) und neuer Gedichte • Gespräch über »jüdische Mystiker, Diebe & Verrückte«. Ethnopoesie, Indianer und die Tradition amerikanisch-jüdischer Dichter • Konzeption, Übersetzungen, Einleitung, Übersetzungslesung und Moderation: NORBERT LANGE (Deutschland)
Jerome Rothenbergs Beschäftigung reicht von der Pflege des Erbes der klassischen Avantgarden über die frühesten Schriftzeugnisse jüdischer Dichtung und Kultur zur gesprochenen Poesie der amerikanischen Ureinwohner und wieder zu den Avantgarden des noch jungen 21. Jahrhunderts. Ein zentraler Begriff in Rothenbergs Werk ist – mit einem Begriff Robert Duncans – die »Grand Collage«, Dichtung, in der Zeiten und Völker gleichberechtigt miteinander kommunizieren und eine gemeinsame »Große Tradition« bilden. Gemeinsam mit anderen Autoren prägte Rothenberg dafür den Begriff der Ethnopoesie, einer den Brückenschlag zwischen den Kulturen beschreibenden Interdisziplin.
Auch sein dreibändiges Werk Tryptich, in seinem Versuch, jüdische Vergangenheit und Gegenwart im Spiegel der Shoa zu thematisieren, kann als Brückenschlag verstanden werden: Während der Mittelteil der Trilogie, Khurbn, den Schrecken und die Grauenslandschaft der Konzentrationslager eindrücklich schildert, imaginiert Poland/1931 das Leben in den jüdischen Gemeinden Polens vor der Katastrophe. Die künftigen Ereignisse werfen in diesem Buch ihren Schatten voraus, jedoch in einer Mischung aus surrealistischem Humor und ins Groteske gesteigerter Folklore: Jüdische Archetypen und Karikaturen der Nicht-Juden, die sich zwischen einem Parlando voller Anklänge an die osteuropäischen Sprachen, des Jiddischen insbesondere, und der amerikanischen Poesietradition, etwa eines W.C. Williams oder Charles Olson bewegen. Im Mittelpunkt dieses Vaudevilles steht die Entwicklung zweier jüdischer Figuren, von Esther K. und Leo Levy, deren Reise sie von den jüdischen Gemeinden Polens bis nach Amerika führen soll. Anhand dieser behandelt das Buch das Spannungsverhältnis zwischen der archaisch-patriarchalischen Tradition des alten Judentums und der durch das »gelobte Amerika« repräsentierten Moderne. Beide werden dabei zu quasi-mythischen Gestalten: Esther K., die in Galizien als Prostituierte arbeitet, wird zur Schechina, dem unterdrückten weiblichen Aspekt Gottes, der schließlich im Versprechen der neuen Welt Amerikas seine verloren geglaubte Macht entfaltet, während Leo Levy, als Nachfolger des Baal Schem Tov, zu einem Sektenführer wird, um sich schließlich als jiddischer Cowboy unter Indianern wiederzufinden, deren Unterdrückung durch die Weißen und dessen visionäre Welt sich mit seiner eigenen jüdisch-kabbalistischen Tradition in dem Gedicht Cokboy vereint.
(Norbert Lange)
Jerome Rothenberg, *1931 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in New York, trat in den späten 50er-Jahren als Übersetzer deutschsprachiger Autoren (u. a. Enzensberger, Grass, Hochhuth, Jandl) und vor allem als erster amerikanischer Übersetzer Paul Celans hervor. 1960 erschien White Sun Black Sun, der erste von inzwischen mehr als zwanzig Gedichtbänden. Seitdem ist er auf vielen Gebieten mit Büchern, Anthologien, Übersetzungen sowie als Gastdozent an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten in Erscheinung getreten. Als Professor für bildende Kunst und Literatur war er bis zu seiner Emeritierung an der San Diego State University tätig. Mit den drei vorgestellten Bänden Khurbn (2017), Rituale & Events (2019), Polen/1931 (2019) liegen Texte Rothenbergs erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Norbert Lange, *1978 in Gdynia (Polen), lebt in Berlin. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Judaistik, Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zeitschriftenredakteur (radar) und -mitbegründer (karawa.net). Lyriker, Essayist und Übersetzer (u.a. von Charles Bernstein, George Oppen, Kevin Prufer). Buchpublikationen: Rauhfasern. Gedichte (2005); Das Geschriebene mit der Schreibhand. Aufsätze (2010); Das Schiefe, das Harte und das Gemalene. Gedichte (2012).
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