Di., 19:30
LQ
GESELLSCHAFTSRÄUME DER LITERATUR: ROBERT SCHINDEL – WUNDWURZELN (2)
PORTRÄT – Anmerkungen zu Robert Schindel
DORON RABINOVICI (Wien) liest seinen Beitrag aus Porträt Robert Schindel (Hg. Bernhard Judex, DIE RAMPE 3/18)
Robert Schindel zählt zu den herausragenden Dichtern der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Natur, Liebe, Poetologie, Sprachreflexion, Existenzfragen zählen zu den Themen von Schindels liedhafter Dichtung, ihr Grundton ist seit je, und nicht erst mit dem Gewahr-Werden des eigenen Alterns, melancholisch. Sinnlichkeit und Lebenslust ziehen darin ihre Spuren, die sich mit Schmerz und Trauer angesichts vergangener Verbrechen und Untaten und gegenwärtiger Bedrohungen kreuzen. An diesen Schnittpunkten ereignen sich die Momente der dichterischen Kreativität: in Liedern, Balladen, Elegien, Sonetten, reimlosen Gedichten und – zuweilen auch – im dialektischen (Polit-)Gedicht erblühen neue Wortschöpfungen, werden entgegengesetzte Stimmungen wie im Film miteinander montiert, erklingen zeitgenössische Echos u.a. der Dichtungen Hölderlins, Heines, Trakls, García Lorcas, Brechts, Celans.
Der Dichter und Kritiker Nico Bleutge charakterisiert den Sammelband von Schindels Gedichten aus vier Jahrzehnten u.a. so: Ohne Zweifel ist »Fremd bei mir selbst« ein Buch, das vom Aufschreiben in einem emphatischen Sinne lebt, das die große Geschichte und die eigene Erinnerung, die Vergangenheit und die Gegenwart, vor allem aber die Sprache und den Körper zusammenbringt.
Dies tun ebenfalls Schindels zwei große, miteinander verbundene Wiener Stadt- und Gesellschaftsromane Gebürtig und Der Kalte, die von Lebens- und Liebesläufen der Zeitgenossen erzählen, die unauflöslich in das gesellschaftspolitische Geschehen verwoben sind. Dieses bleibt von den nachhaltigen Verheerungen und Zerstörungen, mit denen Europa von der Gewalt- und Mordherrschaft des Nationalsozialismus überzogen worden war, durchsetzt. Schindel erzählt in einem weit ausgreifenden Gefüge verschiedener Handlungs- und Empfindungsebenen von der Notwendigkeit und von den schwer überwindbaren Hindernissen für nachfolgende Generationen, die sich ihrer Herkunft nicht entziehen können, nach der Entzweiung in Täter und Opfer, in Überlebende, Mitläufer und Verbrecher, mit- oder nebeneinander doch irgendwie leben zu müssen. Volker Kaukoreit hat in seiner brillanten Darstellung von Robert Schindels literarischem Werk (im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur) die motivischen und kompositorischen Korrespondenzen von Schindels Romanen zu den berühmten Großstadtromanen des 20. Jahrhunderts, aber auch zu Joseph Roths Radetzkymarsch, beschrieben.
Derlei literarische Verflechtungen bilden also Gesellschaftsräume von Schindels Literatur und begründen die Struktur dieser Veranstaltung.
(Kurt Neumann)
Robert Schindel, *4.4.1944 in Bad Hall als Sohn verfolgter Eltern. Buchhändlerlehre, Bibliothekar, externe Matura, journalistische Arbeit. Seit 1985 freischaffender Schriftsteller, leitete drei Jahre das Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Erste Publikationen im »literarischen Untergrund« 1970. Gedichtbände: Fremd bei mir selbst. Gedichte 1965–2003 (2004), Wundwurzel (2005), Mein mausklickendes Saeculum (2008) und Scharlachnatter (2015). Prosawerke: Kassandra. Roman (1970/2004); Gebürtig. Roman (1992); Die Nacht der Harlekine. Erzählungen (1994); Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Reden und Vorträge (1995); Mein liebster Feind. Essays (2004); Der Krieg der Wörter gegen die Kehlkopfschreie. Das frühe Prosawerk (2008); Dunkelstein. Eine Realfarce (2010; UA 2016); Man ist viel zu früh jung. Essays, Reden und Bekenntnisse (2011); Der Kalte. Roman (2013); Don Juan wird sechzig. Heiteres Drama (2015).
Doron Rabinovici, *1961, Autor, Historiker, Essayist, politischer Aktivist. Zuletzt erschien u.a.: Die letzten Zeugen (mit Matthias Hartmann, Burgtheater 2013/14); Herzl relo@ded – kein Märchen (mit Natan Sznaider, 2016); Die Außerirdischen. Roman (2017); Alles kann passieren (mit Florian Klenk, Buch und Theater, 2018).
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