Di., 17:00
LQ
GESELLSCHAFTSRÄUME DER LITERATUR: ROBERT SCHINDEL – WUNDWURZELN (1)
3. Veranstaltung einer neuen Reihe – Konzept und Ausführung: KURT NEUMANN
LESARTEN: SPIEGELUNGEN UND POSITIONIERUNGEN
Vier kommentierte und vergleichende Lesungen aus Schindels Büchern und Referenzwerken der Weltliteratur
KATJA LANGE-MÜLLER (Berlin) ausgehend vom Erzählband Die Nacht der Harlekine (1994)
GERHARD SCHEIT (Wien) ausgehend von den Essays Gott schütz uns vor den guten Menschen (1995)
JAN KONEFFKE (Wien – Bukarest) ausgehend vom Roman Gebürtig (1992)
BETTINA BALÀKA (Wien) ausgehend vom Roman Der Kalte (2013)
Robert Schindel zählt zu den herausragenden Dichtern der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Natur, Liebe, Poetologie, Sprachreflexion, Existenzfragen zählen zu den Themen von Schindels liedhafter Dichtung, ihr Grundton ist seit je, und nicht erst mit dem Gewahr-Werden des eigenen Alterns, melancholisch. Sinnlichkeit und Lebenslust ziehen darin ihre Spuren, die sich mit Schmerz und Trauer angesichts vergangener Verbrechen und Untaten und gegenwärtiger Bedrohungen kreuzen. An diesen Schnittpunkten ereignen sich die Momente der dichterischen Kreativität: in Liedern, Balladen, Elegien, Sonetten, reimlosen Gedichten und – zuweilen auch – im dialektischen (Polit-)Gedicht erblühen neue Wortschöpfungen, werden entgegengesetzte Stimmungen wie im Film miteinander montiert, erklingen zeitgenössische Echos u.a. der Dichtungen Hölderlins, Heines, Trakls, García Lorcas, Brechts, Celans.
Der Dichter und Kritiker Nico Bleutge charakterisiert den Sammelband von Schindels Gedichten aus vier Jahrzehnten u.a. so: Ohne Zweifel ist »Fremd bei mir selbst« ein Buch, das vom Aufschreiben in einem emphatischen Sinne lebt, das die große Geschichte und die eigene Erinnerung, die Vergangenheit und die Gegenwart, vor allem aber die Sprache und den Körper zusammenbringt.
Dies tun ebenfalls Schindels zwei große, miteinander verbundene Wiener Stadt- und Gesellschaftsromane Gebürtig und Der Kalte, die von Lebens- und Liebesläufen der Zeitgenossen erzählen, die unauflöslich in das gesellschaftspolitische Geschehen verwoben sind. Dieses bleibt von den nachhaltigen Verheerungen und Zerstörungen, mit denen Europa von der Gewalt- und Mordherrschaft des Nationalsozialismus überzogen worden war, durchsetzt. Schindel erzählt in einem weit ausgreifenden Gefüge verschiedener Handlungs- und Empfindungsebenen von der Notwendigkeit und von den schwer überwindbaren Hindernissen für nachfolgende Generationen, die sich ihrer Herkunft nicht entziehen können, nach der Entzweiung in Täter und Opfer, in Überlebende, Mitläufer und Verbrecher, mit- oder nebeneinander doch irgendwie leben zu müssen. Volker Kaukoreit hat in seiner brillanten Darstellung von Robert Schindels literarischem Werk (im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur) die motivischen und kompositorischen Korrespondenzen von Schindels Romanen zu den berühmten Großstadtromanen des 20. Jahrhunderts, aber auch zu Joseph Roths Radetzkymarsch, beschrieben.
Derlei literarische Verflechtungen bilden also Gesellschaftsräume von Schindels Literatur und begründen die Struktur dieser Veranstaltung.
(Kurt Neumann)
Robert Schindel, *4.4.1944 in Bad Hall als Sohn verfolgter Eltern. Buchhändlerlehre, Bibliothekar, externe Matura, journalistische Arbeit. Seit 1985 freischaffender Schriftsteller, leitete drei Jahre das Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Erste Publikationen im »literarischen Untergrund« 1970. Gedichtbände: Fremd bei mir selbst. Gedichte 1965–2003 (2004), Wundwurzel (2005), Mein mausklickendes Saeculum (2008) und Scharlachnatter (2015). Prosawerke: Kassandra. Roman (1970/2004); Gebürtig. Roman (1992); Die Nacht der Harlekine. Erzählungen (1994); Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Reden und Vorträge (1995); Mein liebster Feind. Essays (2004); Der Krieg der Wörter gegen die Kehlkopfschreie. Das frühe Prosawerk (2008); Dunkelstein. Eine Realfarce (2010; UA 2016); Man ist viel zu früh jung. Essays, Reden und Bekenntnisse (2011); Der Kalte. Roman (2013); Don Juan wird sechzig. Heiteres Drama (2015).
Katja Lange-Müller, *1951 in Ostberlin, 1984 Ausreise nach Westberlin. Ingeborg-Bachmann-Preis 1986, Alfred-Döblin-Preis, 1995, Kleist-Preis 2013. Zuletzt erschienen die Romane Die Letzten (2000), Böse Schafe (2007), Drehtür (2016) und der Erzählungsband Die Enten, die Frauen und die Wahrheit (2003).
Gerhard Scheit, *1959, Autor und Essayist in Wien; u.a. Mitherausgeber der Jean-Améry-Werkausgabe (2002–2008) – zuletzt erschien: Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts (2009); Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno (2009); Kritik des politischen Engagements (2016); Im Ameisenstaat: Von Wagners Erlösung zu Badious Ereignis (2017).
Jan Koneffke, *1960 in Darmstadt, Schriftsteller und Übersetzer, lebt seit 2003 in Wien und Bukarest. Leonce-und-Lena-Preis 1987, Uwe-Johnson-Preis, 2016. Zuletzt erschienen die Romane Eine nie vergessene Geschichte (2008), Die sieben Leben des Felix Kannmacher (2011), Ein Sonntagskind (2015) und der Gedichtband Als sei es dein (2018).
Bettina Balàka, *1966 in Salzburg, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Theaterstücke und Hörspiele. Zuletzt erschienen: Schaumschluchten. Gedichte (2009); Auf offenem Meer. Erzählungen (2010); Kassiopeia. Roman (2012); Unter Menschen. Roman (2014); Die Prinzessin von Arborio. Roman (2016); Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit (2018).
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