Mi., 19:00
Universität Wien, Hörsaal 31
ERNST-JANDL-DOZENTUR FÜR POETIK 2017
VALERI SCHERSTJANOI (Russland – Deutschland) 2 Vorlesungen zum Thema: ZWEI GENERATIONEN. ZWEI WELTKRIEGE. EINE AVANTGARDE. Poetologisch-autobiografische Skizzen – 2. Vorlesung: Lautdichtung, Scribentismen • Moderation: THOMAS EDER (Universität Wien) • Hörsaal 31: Hauptgebäude der Universität, I., Universitätsring 1, Stiege IX, 1. Stock
Ein Gemeinschaftsprojekt von Bundeskanzleramt/Sektion Kunst und Kultur, Institut für Germanistik der Universität Wien, Gesellschaft zur Erforschung von Grundlagen der Literatur und Alte Schmiede
Als Ernst-Jandl-Dozent 2017 wird Valeri Scherstjanoi 2 Vorlesungen unter dem Titel Zwei Generationen. Zwei Weltkriege. Eine Avantgarde halten. Der Autor dazu: Im Teil 1 geht es um meinen Weg zu Chlebnikow und seinen Mitstreitern (Majakowski, Kručenych, Kamenski), um mein Leben in der Sowjetunion bis zur Übersiedlung in die DDR, um die geografische Nähe (es war das Erzgebirge, Schneeberg, wo ich zuerst wohnte) zu Carlfriedrich Claus und um Ernst Jandl, wie ich ihn während seines Abends im tip-Theater des Palastes der Republik kennengelernt habe. Im Teil 2 werde ich über mein eigenes Werk (Lautdichtung, Scribentismen) sprechen. Während beider Vorlesungen werde ich selbstverständlich zahlreiche Lautgedichte vortragen und einige Bilder zeigen.
Von Scherstjanois Vorlesungen ausgehend und auf sie vorbereitend untersucht die Semestervorlesung von Thomas Eder die Theorie und Praxis der Lautdichtung. Lautgedichte und auditive Aspekte beim Lesen und Verstehen von Poesie gelten mitunter als randständige Bereiche der literaturwissenschaftlichen Forschung, die stattdessen auf den geschriebenen Text als die Grundlage der wissenschaftlichen Analyse von Gedichten konzentriert war. Die Vorlesung rückt die auditiven, oralen Momente an der Produktion und Rezeption von Dichtung ins Zentrum und fokussiert dabei auf die folgenden Bereiche:
1) das avantgardistische Lautgedicht als Modellfall einer oralen/auditiven Poesie (Dadaismus, Hugo Ball, Kurt Schwitters; russischer Kubofuturismus, Krutschonych, Chlebnikow; Ernst Jandl, Wiener Gruppe, Franz Mon etc.) – diese Gedichte sind explizit als mündlich vorzutragende verfasst und loten das lautliche Potenzial der Dichtung aus
2) Mündlichkeit und Schriftlichkeit: die medienbedingten Aspekte des Verfertigens, Tradierens und Rezipierens von Sprachkunstwerken
3) der mündliche Vortrag von Dichtung (durch den Autor, aber auch durch Lesende beim Interpretationsprozess) als ein Spezialfall der Rezeptionsweise: welche Aspekte des Embodiment of Mind spielen hier eine Rolle? Denn die implizit zurückgewiesene Auffassung der entkörperten »rein geistigen« Textgrundlage wird um die körperlichen Aspekte des Poesie-Hörens ergänzt
4) Lesen von Gedichten und Subvokalisierung – welche Prozesse finden beim Lesen von Gedichten statt? Was ist das emotive Potenzial von Laut und Klang?
5) Verhältnis von Schrift und Klang, von Buchstabe und Laut: »Scribentismen« als gestische Spuren von rhythmischen Dynamiken (Valeri Scherstjanoi, Carlfriedrich Claus)
6) Klang und Bedeutung: Wie können Laute auf einer sublexikalischen Ebene Bedeutung erzeugen? (Formalismus, empirische Literaturwissenschaft; Erklärungsansätze aus dem Bereich der Synästhesieforschung)
Valeri Scherstjanoi schreibt: Mit meiner Arbeit knüpfe ich an die Traditionen der Lautkunst, der avantgardistischen Lautdichtung vom Beginn des 20. Jahrhunderts an. Von großer Bedeutung ist für mich die weitere Entwicklung der Lautdichtung im Kontext der deutschen konkreten Poesie, der französischen und italienischen Poesia Sonora und des Lettrismus. Die von mir ausgearbeitete »ars scribendi/poesia sonora = Scribentismus, die scribentische Kunst« besteht aus verschiedenen Lautzeichen, sowohl auf dem Papier (scribentische Notationen) als auch im Zeitraum während der Performance (visuelle Lautmassen). Die »scribentische Lautpoesie« ist eine Dichtung, die das rationale Verstehen zugunsten der reinen Klänge ignoriert und auf emotionaler Ebene neue Kommunikationen zu schaffen sucht. – Zum Beispiel sind das »scr« in scribere und »Scherst« (Wortstamm meines Namen) lautmalerisch verwandt: scrubber, scrub, scrib, scribtum, scriptural, Geräusch, Geraschel, knirschen, oskrebsh, schelest, scherst (Wolle).
In Mein Futurismus berichtet Scherstjanoi von seinem Leben und resümiert sein lebenslanges Nachdenken über den Futurismus und dessen Exponenten Marinetti, Chlebnikow, Charms, Krutschonych, Claus u.v.a. (Thomas Eder)
Valeri Scherstjanoi, *1950 in Sagiz (Kasachstan), am Verbannungsort der Eltern. Seit 1968 Lesungen eigener Gedichte und Gedichte der russischen Futuristen. 1971–1976 Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Krasnodar, 1979 Übersiedlung in die DDR, lebt seit 1981 in Berlin. Lautdichter, Hörspielautor und Zeichner (Scribentist). 1983 erste Lautgedichte, 1988 Programm der scribentischen Lautdichtung formuliert. Seit 1989 Teilnahme an internationalen Festivals der Lautpoesie, an Symposien und Colloquien. 1994–98 künstlerischer Leiter des Internationalen Festivals der Lautpoesie bobeobi in Berlin. 2009/2010 Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 1977 zahllose Publikationen, etwa Künstlerbücher mit Hartmut Andryczuk, Michael Lentz u.a., Herausgeber von Tango mit Kühen. Anthologie der russischen Lautpoesie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1998); zuletzt: lauter scherben. Texte, Zeichnungen, Chronik (2008); Mein Futurismus (2011); Alexei Krutschonychs »Phonetik des Theaters« 1923 (2011).
Thomas Eder, *1968, Literaturwissenschafter und -vermittler. Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien, leitet die Abteilung Publikationswesen im österreichischen Bundeskanzleramt. Jüngste Publikationen: Brigitte Kronauer/Alexander Nitzberg/Ferdinand Schmatz: Dichtung für alle. Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik (hg. mit Kurt Neumann, 2013); Kosmöschen Steiger (Hg., 2015); Konrad Bayer. Texte – Bilder – Sounds (hg. mit Klaus Kastberger, 2015); Selbstbeobachtung. Oswald Wieners Denkpsychologie (hg. mit Thomas Raab, 2015).
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